Katalonien 1937: Mit George Orwell im Kaffeehaus
Kohrs Philosophie entstand zu einer Zeit, als Staatsmänner und Wissenschafter, in westlichen Demokratien nachdachten, wie die Welt nach dem Sieg über Hitlerdeutschland, das faschistische Italien und Japan organisiert sein sollte, um Militarismus und Völkermord künftig zu verhindern. Die Gründung der UNO in San Francisco – wenige Monate nach dem Endes des Zweiten Weltkrieges – war der Traum von einer gerechten Weltregierung. Kohr sah die Widersprüche und Probleme, die der UNO durch die Dominanz und das Vetorecht der Großmächte bis heute schwer zu schaffen machen. Anstatt einer zentralistischen Lenkung favorisierte er die Zerschlagung der großen Nationalstaaten wie Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien durch Aufteilung in die jeweiligen Regionen; autonom durch eigene Regierungen und quer über sprachliche und kulturelle Zugehörigkeiten hinweg. Als Lösung für Mittel- und Südosteuropa schlug Kohr die Gründung einer multi-ethnischen Donau-Föderation vor; territorial nach dem Vorbild des Habsburgerreiches aufgeteilt, jedoch ohne Zentralregierung. Damit sollte der Deutschnationalismus dauerhaft in die Schranken gewiesen werden, mit dem zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen wurden. Laut hätte es dann keine Hauptstädte wie Berlin oder Wien mehr gebraucht. Die Strömungen der katalanischen Anarchisten und Regionalisten aus den 1930er-Jahren – bis heute in Spanien gegen die Madrider Zentralregierungen spürbar – waren die Basis für Kohrs Philosophie. Der junge Salzburger hatte als frischgebackener Jurist und Staatswissenschaftler auch journalistisch viel gearbeitet – 1937 sogar als Reporter im Spanischen Bürgerkrieg.
Kurz bevor der 28-jährige Kohr 1937 in Spanien ankam, erreichte dort der Kampf der Anarchisten gegen Stalins Agenten einen Höhepunkt – neben dem gegen Francos Faschisten. Stalins Einfluss und Druck auf die republikanische Regierung war jedoch die eigentliche Ursache, dass am 3. Mai 1937 eine Revolution der anarchistischen Arbeiter und Bauern ausbrach. Sie richtete sich gegen die marxistisch-kommunistisch dominierte Zentralregierung in Madrid und ihre „Internationalen Brigaden“. Am 7. Mai wurden diese Aufstände von Regierungstruppen niedergeschlagen. Den Vormarsch begleiteten zahlreiche Massaker, bei denen Kommunisten mitmachten. Bauern und Arbeiter, Männer und Frauen wurden entwaffnet, viele gefoltert und ermordet. Am folgenden Tag betrat Leopold Kohr zum ersten Mal spanischen Boden. Er reiste mit der Eisenbahn von Frankreich ein und spürte die gespenstische Stille, die über dem Land lag. Kohr hatte Aufträge von vier Redaktionen in der Tasche, für die Zeitungen „Echo“ und „Express“ in Wien, für die Nachrichtenagentur „Agence Viator“ in Paris und für das Schweizer Magazin „ABC“. Vier Monate wollte Kohr nun als Kriegsreporter in Spanien arbeiten.
Sommer 1937. Rauchwolken in der Ferne!
Wahrscheinlich schwere Artillerie. Oder Luftangriffe? Die Straßencafes im Zentrum von Valencia waren überfüllt. Die Sonne plagte die Menschen stärker als die Nähe der Front, die nur 100 Kilometer entfernt war. Im Schatten der Baldachine ließ sich der Krieg aushalten. Ein internationales Publikum bevölkerte die Cafés. Lokale Dialekte, Spanisch, Baskisch, Katalonisch mischten sich mit dem Slang amerikanischer Revolutionstouristen, man hörte Französisch, auch Deutsch. Abseits der Schlachtfelder bekamen Gerüchte und Nachrichten aus Schützengräben einen bizarren Reiz, der die Phantasie der Zaungäste beflügelte und diejenigen zum Träumen brachte, die das Grauen noch nicht erlebt hatten. Chronisten, Reporter und Redakteure schickten von Valencia ihre Schreckensmeldungen in die Welt hinaus. Der Faschismus war in Spanien auf dem Vormarsch. Da draußen, irgendwo hinter dem Horizont, nutzten Truppen Francos den Wirrwarr und die Streitigkeiten unter den Republikanern für ihre Zwecke. Nur wenige kampferprobte Brigadisten waren unter den Kaffeehausgästen. Waren sie Spanier, dann trugen sie oft ihre besten Hemden, waren rasiert und herausgeputzt. Ganz im Gegensatz zu Gästen aus anderen Ländern, den Reportern, Schriftstellern, Abenteurern und Lebenskünstlern. Viele hatten Stoppelbärte, steckten in verwahrlosten Klamotten, wie wenn sie direkt von der Front kämen. Echte Kämpfer zeigten sich in der Stadt als Salonlöwen – trotz ihrer abgezehrten Gesichter. Katalonische Frauen, so hieß es, wollten keine Verschwitzten und Geschundenen für die kurze Zeit, die noch blieb bis zum Sterben. Bis auf wenige Stellen waren auch die Gehsteige mit Kaffeehaustischen und Stühlen verstellt. Ein bärtiger Brite bahnte sich den Weg. Bei einem jungen Ausländer war noch Platz. Der legte seine Zeitung weg, er trug einen feinen Anzug – offenbar auch einer dieser Revolutionstouristen, die sich 1937 zu Tausenden in Spanien aufhielten. Die beiden Männer hatten sich nie zuvor gesehen.
„May I sit down?“ „Yes, of course …“
Und nach einer Pause: „Everyone in Spain nowadays introduces himself with a false name.“ So stellte sich der Unbekannte mit seinem Decknamen vor: „George Orwell.“ Komisch, dachte Leopold Kohr. Decknamen und Pseudonyme sind wohl große Mode hier im Krieg. Zehn Jahre später erinnerte sich Kohr genau, wer ihm da begegnet war. In der Weltpresse war von einem gewissen George Orwell die Rede. Es war ein Pseudonym. Der Brite rechnete in seiner Literatur mit dem Stalinismus und der Sowjetunion ab, zum Beispiel in „Animal Farm“. Eigentlich hieß er Eric Arthur Blair, geboren am 25. Juni 1903 in Motihari, Indien – Sohn eines britischen Kolonialbeamten. Blair schlug sich als Polizist, Lehrer, Reporter, Kriegsberichterstatter und Schriftsteller durch. Mehrere Jahre lebte er in Südostasien. Mit dem Roman „1984“ gelang Blair Ende der 1940er-Jahre ein Bestseller. Mit nur 46 Jahren starb er 1950 an Tuberkulose. Vor „1984“ hielten sich Orwells literarische Erfolge in Grenzen, er galt allerdings als wagemutiger Reporter. Wegen seines schwierigen Charakters und exzentrischer Auftritte hatte er viele Feinde. Orwell hasste den Faschismus und den Kommunismus gleichermaßen. „1984“ und „Farm der Tiere“ sind Monumente gegen den totalitären Staat. Als sich Kohr und Orwell im Sommer 1937 trafen, war der Brite noch ein Unbekannter. Der junge Österreicher, arbeitete – wie er – als Reporter. Und auch Kohr war Lebenskünstler; sechs Jahre jünger als Orwell …
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Das Buch ist im Frühling 2014 im Verlag Edition Tandem (Salzburg) erschienen.
Lehner, Gerald: Das menschliche Maß. Eine Utopie? Gespräche mit Leopold Kohr über sein Leben. Verlag Edition Tandem. Salzburg 2014. ISBN 978 – 3 – 902932 – 01 – 3