Rückkehr nach Salzburg: Das „Kohr“ als neue Maßeinheit
„Aber der Kohr?
Das ist doch nur ein Sozialromantiker.“
(Bruno Kreisky)
Im Juli 1972, nach seiner Pensionierung an der Uni von Aberystwyth in Wales, lernte Kohr durch Zufall den Salzburger Kulturmanager und Verleger Alfred Winter kennen. Sieben Jahre später sahen sie einander wieder. Kohr stand im Vorzimmer von Winters Büro und flirtete mit dessen Sekretärin Elizabeth Mortimer – einer Britin, die schon lange in Salzburg lebt und arbeitet – mittlerweile als bekannte Journalistin für den ORF und Korrespondentin für internationale Medien – darunter die BBC und Sender in Nordamerika. Winter organisierte damals gerade die Salzburger Landesausstellung des Jahres 1980 und hatte Stress. Die Schau sollte im Keltenmuseum der Tennengauer Kleinstadt Hallein untergebracht werden, in einer Gegend, wo ein keltischer Stamm vor Jahrtausenden den Salzbergbau zu einer ersten Blüte gebracht hatten. Auf dem Dürrnberg bei Hallein lag seine wichtigste Siedlung.
Kohr wird neu „entdeckt“
Irgendwann fragte Kulturmanager Winter seine Mitarbeiterin, wer denn dieser Mann sei. Elizabeth Mortimer erzählte von dem Ökonomen und Philosophen, mit dem sie schon länger befreundet war: Leopold Kohr. Angereist aus Wales machte er wieder Urlaub in Salzburg. So kamen sie ins Gespräch. Winter war begeistert, denn Kohr berichtete von den keltischen Walisern – ein Thema, das genau zur geplanten Salzburger Keltenausstellung passte. Kohr bot ihm an, seine Kontakte in Wales zur Verfügung zu stellen und rief seinen alten Kampfgefährten Gwynfor Evans an, den Chef der sehr kleinen, walisischen und sozialdemokratischen Nationalpartei „Plaid Cymru“ sowie Geraint Bowen, den keltischen „Erzdruiden“. Beide wurden 1980 dann zur offiziellen Eröffnung der Keltenausstellung nach Hallein/Salzburg eingeladen.
Erstes Medienecho in der alten Heimat
Erstaunlich ist, dass alles, was Kohr in den USA, in Kanada, Puerto Rico und Wales publiziert und eingefädelt hatte, bis Anfang der 1980er-Jahre in Österreich unbekannt war. In Salzburg wusste nur der Zukunftsforscher und Schriftsteller Robert Jungk, wer Kohr war. Winter arrangierte ein Treffen der beiden. Später schrieb Jungk, auf den ersten Blick könnte man die Kleinheitstheorie des gebürtigen Salzburgers vielleicht als chauvinistisch missverstehen. Bei näherer Betrachtung erkenne man, wie zutreffend das Konzept sei. Überhaupt sei Kohr ein angenehmer und humorvoller Zeitgenosse, mit dem er gern ein Glas Wein trinke, so Jungk. Alfred Winter nutzte seine Kontakte zu den Medien, um Kohr bekannter zu machen. Einer der ersten Interviewer war der Salzburger Roman Hinterseer, damals noch Redakteur der Tageszeitung „Kurier“. In Wien organisierte der Fernsehredakteur Franz Kreuzer vom ORF erste TV-Diskussionen und Filmberichte. Und auch ein bunter Hund der österreichischen Medienszene nahm Witterung auf: Günther Nenning machte mehrere Interviews mit Kohr. Winter versuchte, auch die Politik für Kohr zu interessieren. Die Kontakte zu Bruno Kreisky brachten wenig, der alte Bundeskanzler und Sozialdemokrat hielt nichts von Kohrs Thesen. Kreisky war während des Krieges in Schweden im Exil gewesen, und zwischen vielen Emigranten gab es noch immer Rivalitäten. Jedenfalls kam kein Kontakt zustande, und Kreisky bezeichnete Kohr in einem Interview – wenig schmeichelnd – als „Sozialromantiker“.
Sozialdemokratie ignorierte ihren einstigen „Sohn“
Obwohl der Anarchist Kohr in jungen Jahren ein glühender Sozialdemokrat gewesen war, ignorierte ihn Österreichs Sozialdemokratie auf Bundesebene bei dieser offiziellen Rückkehr in die alte Heimat völlig. Dagegen begann die christliche-konservative „Österreichische Volkspartei“ (ÖVP) ihn für ihre politischen Zielsetzungen im Rahmen des Föderalismus gegen zentralistische Kräfte in der Bundeshauptstadt Wien zu gewinnen. Am 27. Mai 1981 überreichte der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer senior (ÖVP) in den Prunkräumen der erzbischöflichen Residenz den „Ring des Landes Salzburg“ an Leopold Kohr. Im Jahr danach veranstalteten die Salzburger Landesregierung und der Österreichische Rundfunk (ORF) ein wissenschaftliches Symposium über Kohrs Thesen. Es fand im April 1982 unter dem Titel „Rückkehr zum menschlichen Maß – Kleinheit als Überlebensprinzip“ im ORF Landesstudio Salzburg statt. Teilgenommen haben neben Kohr neben anderen Fachleuten:
John Papworth (London), Robert Jungk (Salzburg), Gwynfor Evans (Wales), Kirkpatrick Sale (USA), Erwin Chargaff (USA), Henry Klumb (Puerto Rico), Hartmut Bossel (BRD), Herbert Dachs (Salzburg), Franz Horner (Salzburg), Oskar Schatz (Salzburg), Rupert Riedl (Wien). Und ein Stargast war ein gebürtiger Österreicher, der sich in Lateinamerika als Visionär und Kulturkritiker einen revolutionären Ruf erworben hatte: Ivan Illich. Als ich im Sommer 1993 versuchte mit ihm Kontakt aufzunehmen, war er schwer krank und lehnte ein Treffen ab. Auf die Frage, was Kohr ihm bedeute, sagte Illich:
„Ich habe ihn lieb gewonnen. Er hat mich stark beeinflusst, besonders mit seiner Theorie des überschaubaren Raums, den wir brauchen, um glücklich leben zu können.“
Revolutionär und Priester aus Lateinamerika
Der Historiker, Kristallograph, Philosoph, Theologe und katholische Priester Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren. Er besuchte in Florenz das „Liceo Scientifico Leonardo da Vinci“, wo er 1942 maturierte. Danach studierte er zunächst an der Universität Florenz und wechselte ein Jahr später nach Rom an die „Gregoriana“, um sich auf die Priesterlaufbahn vorzubereiten. Im Jahr 1951 promovierte Illich in Salzburg mit einer historischen Arbeit über den Geschichtsphilosophen Arnold J. Toynbee. Im selben Jahr wanderte er in die USA aus, wo er bis 1956 in New York als Seelsorger in den Elendsvierteln der Zuwanderer aus Puerto Rico tätig war. Später übersiedelte Illich in die Karibik und wurde mit knapp 30 Jahren an der Universität von Puerto Rico zum Vizerektor ernannt. Hier kam es zu ersten Streitereien mit der katholischen Hierarchie. Der Bischof von Ponce kritisierte den Gouverneur Luis Munoz Marin scharf, weil der Politiker für Geburtenkontrolle kämpfte, um das Elend der Massen zu lindern.
Der Priester und Wissenschafter Illich verteidigte den Gouverneur und griff den konservativen Bischof öffentlich scharf an. Er verlor seinen Job an der Universität und ging 1960 nach Mexico. In Cuernavaca gründete Illich das „Centro Intercultural de Documentacion“ (CIDOC). Es befasst sich mit sozial und ökologisch verträglichen Lebensformen in Entwicklungsländern, die beitragen sollten, die Selbsthilfe zu stärken, Armut und Hunger zu bekämpfen und den Einfluss der Industriestaaten zurückzudrängen. Illich entwickelte sich zu einem der schärfsten Kritiker der westlichen Konsumgesellschaft und ihrer Philosophie des Wachstums. Illich zögerte bis zu seinem Tod nicht, auch auf Missstände in der Kirche hinzuweisen. Das kostete dem Befreiungstheologen im Vatikan die letzten Sympathien. Leopold Kohr hätte seinen Verehrer am liebsten als kommenden Papst in Rom gesehen.
Kohr hatte ein ähnliches Faible für den britischen Autor und Landwirtschaftsexperten John Seymour, einen Verfechter der regionalen Selbstversorgung mit naturbelassenen Nahrungsmitteln aus dem eigenen Garten:
„Bei Ivan Illich und John Seymour mag ich, dass sie so sind, wie sie sind. Ohne dass ich sie irgendwie beeinflusst hätte. Ich mag es, dass wir radikal unsere eigenen Wege gegangen sind. Das Ähnliche zwischen uns ist nur, dass jeder ohne Kompromiss seinen Visionen nachgeht. Und ich bin der Schwächste von allen, weil ich nur predige und nichts in die Tat umsetze. Die anderen setzen alles praktisch um. Ich bin nur ein Redner, ein Schwätzer.“
Das „Kohr“ als „physikalische“ Einheit für menschliches Maß
Ivan Illich sagte in seiner Festrede 1982 in Salzburg, dass er, der in Lateinamerika lebte, oft an Kohrs Schönheitsbegriff und das Land Salzburg denke. Erst durch Kohr sei es ihm gelungen, eine Maßeinheit für Schönheit und Ästhetik zu finden, ein menschliches Maß. Vielleicht ließe sich dieses Gefühl für Ästhetik auch mathematisch illustrieren. Die Einheit der Schönheit und bescheidenen Größe sei Kohrs Traumland Salzburg perfekt angepasst, dem Lebensraum um seine Heimat Oberndorf. Den Radius dieses Raumes hatte Kohr mit etwa 22 Kilometern angegeben. Illich schlug deshalb vor, eine neue Maßeinheit zu schaffen:
„In meinen Überlegungen gehe ich vom Studium des `Kohr` als Maßeinheit aus. Ein Kohr – Sie verzeihen wohl, dass ich Ihren Familiennamen im Dienste der Sozialmorphologie missbrauche – ist nicht ein Gebiet, sondern ein Bereich, nicht ein Maß, sondern ein Ausmaß und entspricht jenem Lebensgefühl, das Sie mit 22 Kilometern bezeichnen, also den vier Gehstunden oder eineinhalb Radstunden zwischen Oberndorf und der Stadt Salzburg. Den metrischen Einheiten stelle ich nun dieses neue Maß „Kohr“ gegenüber.“
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Das Buch ist im Frühling 2014 im Verlag Edition Tandem (Salzburg) erschienen.
Lehner, Gerald: Das menschliche Maß. Eine Utopie? Gespräche mit Leopold Kohr über sein Leben. Verlag Edition Tandem. Salzburg 2014. ISBN 978 – 3 – 902932 – 01 – 3